Psalm 22 – Mit Gott durch die Einsamkeit

Nahaufnahme einer Frau mit blauen Augen, strukturierter Haut und offenem Haar, die aufmerksam blickt.

Horror der Einsamkeit

Der bekannte Horror-Schriftsteller Stephen King wurde einmal gefragt, welches Wort er für das schreckenerregendste in der englischen Sprache halte: Ohne zu zögern antwortete er: „alone“. Weder „Mord“ könne damit mithalten und selbst „Hölle“ wäre dafür nur ein schwaches Synonym.

Und tatsächlich: Von allen Dingen, die wir fürchten, ist völlige Einsamkeit und Verlassenheit wohl das Unerträglichste. Sie höhlt uns aus, frisst uns auf, verzehrt uns, schmerzt. Gleichzeitig wird Einsamkeit für immer mehr Menschen zur Realität. Sogar manche Regierungen haben erkannt, dass sie handeln müssen – wie etwa in Großbritannien, wo es bereits ein Ministerium für Einsamkeit gibt.

Doch was kann man der Einsamkeit im eigenen Leben entgegensetzen? Wie findet man hindurch und heraus? Genau darauf gibt Psalm 22 Antworten.

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Von Gott verlassen?

Psalm 22,2.3 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. (3) Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.

Gläubige Menschen finden Trost darin, dass Gott ihnen auch in einsamen Stunden nahe ist. Doch was ist, wenn ich mich sogar von Gott verlassen fühle? Wenn es scheint, als blieben meine Fragen ohne Antwort?

Theodizee

Die Frage, warum Gott das Leid zulässt, zieht sich durch viele Psalmen der Bibel.

Am Kreuz schreit Jesus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46). Doch ist dies nicht nur sein Schrei – es ist der Schrei der Menschheit seit Jahrtausenden angesichts des unbegreiflichen und oft so sinnlosen Leides. Wo ist Gott im Leid? Warum gibt es so viel Leid auf der Welt?

Auch die Psalmen sind durchzogen von diesen Fragen. Immer wieder klagen Menschen Gott ihr Leid und schütten ihm ihr Herz aus (z. B. in  Psalm 13 und Psalm 88).

Ermutigende Erinnerungen

Psalm 22,4-6 Aber du bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels. (5) Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus. (6) Zu dir schrien sie und wurden errettet, sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden.

Psalm 22 pendelt immer wieder zwischen Klage und Hoffnung. Nach seinem herzzerreißenden Aufschrei richtet der Schreiber seinen Blick zurück – auf die Geschichte seines Volkes Israel.

Zuversicht

Die Erinnerung an frühere gute Erfahrungen mit Gott kann meinen Glauben stärken.

Damals wohnte Gott mitten unter seinem Volk (Psalm 22,4). Das Heiligtum, ein Ort der Begegnung, schuf die Verbindung zwischen dem heiligen Gott und den unvollkommenen Menschen (2. Mose 25,8.9). Sie waren in ihren Schwierigkeiten niemals allein gewesen (5. Mose 2,7).

Worauf kann ich mich im Leid besinnen? Was hat mir Gott bereits Gutes getan? Aus welchen Nöten hat er mich befreit?

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Spott und Hohn

Psalm 22,7-9 Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volk. (8) Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf: (9) »Er klage es dem HERRN, der helfe ihm heraus und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.«

Einsamkeit ist schon schwer genug zu ertragen – wie viel schlimmer wird sie, wenn sie von Spott und Verachtung begleitet wird. Der Verlust der Ehre trifft uns bis ins Innerste. David beschreibt seine Erniedrigung mit schmerzhaften Worten. Er fühlt sich nicht einmal mehr als Mensch, sondern wie ein Wurm.

Manche verspotten ihn und provozieren: „Wo ist jetzt dein Gott? Kann er dir nicht helfen?“ Doch David hört nicht auf, Gott zu vertrauen. Er klagt ihm sein Leid, weil er sicher ist: Gott wird ihn nicht im Stich lassen.

Geborgenheit

Psalm 22,10.11 Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen; du ließest mich geborgen sein an der Brust meiner Mutter. (11) Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an, du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an.

David richtet seinen Blick zurück auf die frühesten Momente seines Lebens. Ist es nicht ein Wunder, geboren zu werden? Gewollt zu sein von einem Schöpfer, der uns das Leben geschenkt hat? Die Geborgenheit, die wir durch unsere Eltern erfahren, kann ein Schlüssel sein, um die Liebe Gottes zu begreifen und anzunehmen.

Vollkommene Liebe

Nur bei Gott ist reine, zuverlässige, selbstlose und beständige Liebe zu finden.

Doch viele Menschen erleben niemals bedingungslose Liebe, Sicherheit und Geborgenheit. Ihnen kann nur die Liebe Gottes das Herz füllen. Wir sind von klein auf von ihm abhängig. In Momenten des Erfolgs vergessen wir das gerne, in Momenten des Leides wird es uns wieder verstärkt bewusst.

Lebensgefahr

Psalm 22,12-19 Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer. (13) Gewaltige Stiere haben mich umgeben, mächtige Büffel haben mich umringt. (14) Ihren Rachen sperren sie gegen mich auf wie ein brüllender und reißender Löwe. (15) Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, / alle meine Gebeine haben sich zertrennt; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. (16) Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, / und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub. (17) Denn Hunde haben mich umgeben, / und der Bösen Rotte hat mich umringt; sie haben meine Hände und Füße durchgraben. (18) Ich kann alle meine Gebeine zählen; sie aber schauen zu und weiden sich an mir. (19) Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.

Gewaltige Stiere, mächtige Büffel, brüllende Löwen und eine Rotte von Bösen – die Bilder, die David hier gebraucht, sind so stark wie erschreckend. Sein Leben ist in akuter Gefahr und er steht mit dem Rücken zur Wand. Diese drastische Sprache lässt erahnen, wie groß die Bedrohung ist, der er gegenübersteht.

Davids Lebensgeschichte zeigt, dass er tatsächlich häufig dem Tode nur knapp entkommen ist. Doch der Psalm geht über die Erfahrungen des irdischen Königs hinaus. Der Gesalbte Gottes (König David), schreibt prophetisch über das Leiden des Messias, des himmlischen Gesalbten.

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Ein prophetischer Blick in die Zukunft

Tausend Jahre nach David erfüllt sich, was dieser Psalm beschreibt: Jesus hängt am Kreuz und erlebt genau das – „Die Hände und Füße werden durchgraben“, die Kleider werden unter den Soldaten verteilt, und sie werfen das Los darum. Er wird „in den Staub des Todes gelegt“.

Trennung

Der Zustand der Sünde trennt uns von Gott – Jesus erlitt die ultimative Trennung für uns.

Doch das Schlimmste war nicht das körperliche Leiden, sondern die Verlassenheit von Gott, die Jesus in einem Ausmaß erlebte, das wir kaum erfassen können. Warum aber? Hatte Gott ihm seine Liebe entzogen? Nein, niemals! Aber die Schuld der ganzen Welt wurde auf ihn gelegt. Diese Last trennte ihn von der innigen Gemeinschaft mit seinem Vater. Inmitten undurchdringlicher Finsternis erlitt er – stellvertretend für uns – die Konsequenz der Abkehr von Gott und hatte den ewigen Tod vor Augen. Und all das geschah aus Liebe!

Gerade deshalb kann Jesus mit unserer Einsamkeit und unserem Gefühl, von Gott verlassen zu sein, mitempfinden. Noch mehr: Er steht im Leid an unserer Seite – so wie David damals nicht allein war. Jesus ist bei uns, auch in den dunkelsten Momenten unseres Lebens.

Sei mir nicht ferne!

Psalm 22,20-22 Aber du, HERR, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen! (21) Errette mein Leben vom Schwert, mein einziges Gut von den Hunden! (22) Hilf mir aus dem Rachen des Löwen / und vor den Hörnern der wilden Stiere – du hast mich erhört!

Noch einmal fleht David um Gottes Nähe und Eingreifen, während er von übermächtigen Feinden und Gefahren bedrängt wird. Doch Gottes Hilfe kommt nicht immer sofort. Es kann sich so anfühlen, als wären wir vollkommen verlassen. In solchen Momenten wird unser Glaube auf die Probe gestellt – ein Glaube, der sich an das Unsichtbare klammert, an das, was wir noch nicht sehen oder fühlen können.

Und dann geschieht es: „Du hast mich erhört“. Vielleicht sind Davids äußere Umstände noch unverändert, doch innerlich hat er den Sieg des Glaubens errungen. Er ist durch das „finstere Tal“ gegangen, aber er hat erlebt, dass er nicht allein ist. Seine Zuversicht zeigt uns: Gott ist da – selbst dann, wenn er für uns unerreichbar scheint.

Ich kann nicht schweigen!

Psalm 22,23-27 Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern, ich will dich in der Gemeinde rühmen: (24) Rühmet den HERRN, die ihr ihn fürchtet; ehrt ihn, all ihr Nachkommen Jakobs, und scheut euch vor ihm, all ihr Nachkommen Israels! (25) Denn er hat nicht verachtet noch verschmäht das Elend des Armen und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen; und da er zu ihm schrie, hörte er’s. (26) Dich will ich preisen in der großen Gemeinde, ich will mein Gelübde erfüllen vor denen, die ihn fürchten. (27) Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden; / und die nach dem HERRN fragen, werden ihn preisen; euer Herz soll ewiglich leben.

Wer aus einer Krise herauskommt oder nach langem Leid endlich wieder Hoffnung schöpft, möchte das gerne mit anderen teilen. David tut dies im Kreise seiner „Gemeinde“ – also der Mitgläubigen. Dort will er Gott öffentlich danken und ihm die Ehre für alles geben. Er möchte auch andere ermutigen, die gerade in Schwierigkeiten stecken, dass sie Gottes Hilfe ebenfalls erfahren.

Oft sind es gerade diejenigen, die selbst durch Leid und Einsamkeit gegangen sind, die anderen am wirkungsvollsten beistehen können, z. B. in Selbsthilfegruppen.

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Gemeinschaft zählt

Der Wechsel vom Anfang des Psalms zur Betonung der Gemeinschaft ist auffällig.  In einer Zeit, die von Individualismus geprägt ist, wird Gemeinde oder Kirche oft unterschätzt oder als verstaubte Institution betrachtet. Doch in Wahrheit geht es um Menschen, die durch ihren Glauben miteinander verbunden sind. Je näher jeder einzelne Gott ist – dem Zentrum –, desto näher kommen sich auch die Menschen.

Verbindung

Menschen finden in Beziehungen Erfüllung. Wir brauchen einander.

Christliche Gemeinden sind wichtig. Hier treffen Menschen unterschiedlichster Herkunft und Lebenssituationen aufeinander – arm und reich, gebildet und ungebildet, Jung und Alt, Ausländer und Einheimische. Sie zeigen, dass der Glaube alle Barrieren überwinden kann.

Wer in Not ist, fühlt sich isoliert, aber wenn eine Gemeinde da ist, können Menschen aufgefangen werden.

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Hinaus in alle Welt

Psalm 22,28-30 Es werden gedenken und sich zum HERRN bekehren aller Welt Enden und vor ihm anbeten alle Geschlechter der Völker. (29) Denn des HERRN ist das Reich, und er herrscht unter den Völkern. (30) Ihn allein werden anbeten alle Großen auf Erden; vor ihm werden die Knie beugen alle, / die zum Staube hinabfuhren und ihr Leben nicht konnten erhalten.

Christliche Gemeinden haben einen Auftrag: Sie sind nicht nur für sich selbst da, sondern sollen die ganze Welt mit der guten Nachricht erreichen (Matthäus 28,19). Diese Botschaft lautet: Gott ist da! Er ist in das Leid der Welt gekommen, leidet mit uns und wird sogar die, die „in den Staub gefahren sind“, auferwecken.

In einer Welt, in der so viele Menschen durch tiefes Leid gehen, ist es eine Botschaft, die nicht für sich behalten werden kann.

Von Generation zu Generation

Psalm 22,31.32 Er wird Nachkommen haben, die ihm dienen; vom Herrn wird man verkündigen Kind und Kindeskind. (32) Sie werden kommen und seine Gerechtigkeit predigen dem Volk, das geboren wird. Denn er hat’s getan.

Der Glaube verbreitet sich nicht nur geografisch aus, sondern dringt auch zeitlich von der Gegenwart in die Zukunft vor. Die Erfahrungen mit Gott werden von einer Generation an die nächste weitergegeben.

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Es ist vollbracht

Der letzte Satz des Psalms „Denn er hat’s getan“ hat eine besondere Relevanz: Er könnte auch mit „Es ist vollbracht“ übersetzt werden. Er erinnert an die Worte, die Jesus am Kreuz sagte (Johannes 19,30). Es scheint, als hätte Jesus diesen Psalm am Kreuz durchgebetet, wobei er bestimmte Worte sprach und andere wohl in seinem Herzen trug.

Jesus am Kreuz

Psalm 22 bietet einen prophetischen Blick auf Jesus am Kreuz.

  • „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46; Markus 15,34; Psalm 22,2)
  • „Mich dürstet“ (Johannes 19,28; angelehnt an Psalm 22,16)
  • „Sie haben meine Hände und Füße durchgraben“ (Psalm 22,17; siehe Johannes 20,25.27)
  • „Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand“ (Psalm 22,19; erfüllt in Johannes 19,24)
  • „Es ist vollbracht“ (Johannes 19,30).

Dieser Psalm zeigt den Weg von Verlassenheit zum Sieg, sowohl bei David als auch bei Jesus. Am Ende bleibt die Gewissheit, dass Gott sein Vorhaben vollenden wird und dass bei ihm alles gut sein wird.

Psalm 22 auf einen Blick

Psalm 22 bewegt sich von verzweifelter Klage angesichts von Einsamkeit und Bedrohung zu tröstender Zuversicht, da die Gewissheit wächst, dass Gott da ist und eingreift. Der Psalm beschreibt auf einzigartige Weise die existenzielle Erfahrung menschlichen Leids. Gleichzeitig gibt er einen prophetischen Ausblick auf das Leiden Jesu am Kreuz. So wird Gott nicht als derjenige dargestellt, der im Leid angerufen wird, sondern auch als der, der selbst Mensch wird, um für uns und mit uns zu leiden.

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Hope TV-Sendung zu Psalm 22

In der Serie „Die Bibel – das Wort“ sprechen Fabian Maier und Chris Vogel über Psalm 22 und erklären nähere Hintergründe:

https://hopetv.de/sendungen/die-bibel-das-wort/theologie-talk-klagelieder

Tränen, Trost und Hoffnung

In Trauer und Leid kann man sich schnell sehr allein fühlen. Das hat auch die Autorin unseres Kurses Tränen, Trost und Hoffnung erlebt, als sie ihre Tochter durch eine Krebserkrankung verlor. In diesem Kurs wirst du durch die Stationen deines Trauerweges begleitet. Du kannst ihn online oder per Post absolvieren, er ist kostenlos.

Übrigens: Wir haben noch weitere Artikel zu Psalmen. Verschaffe dir einen Überblick!

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Vertonungen

„Mein Gott, warum bin ich allein?“ (angelehnt an Psalm 22)

 

Felix Mendelssohn-Bartholdy: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“


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