Kreative Wissenschaften

Das alltägliche Beispiel von Pippi und Marie macht offensichtlich, wie schnell wir aus ein paar Anhaltspunkten ein Gesamtbild erstellen. Viele Menschen sind allerdings überrascht, dass auch das wissenschaftliche Denken nach dem gleichen Muster funktioniert.

Wissenschaftler extrahieren immer Aspekte der Realität für ihre Untersuchungen und blenden andere aus.

Sophia Serrano · Encounters, Episode 3

Auch die Naturwissenschaft betrachtet immer nur gewisse Teile unserer unglaublich komplexen Welt. Das Ergebnis sind einzelne Puzzlestücke. Die Frage, wie man diese zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügt, lässt sich nicht durch Messungen beantworten, sondern nur durch einen kreativen Prozess. Theologe und Philosoph Oliver Glanz vergleicht Wissenschaftler deshalb mit Künstlern. „Letztlich schaffen sowohl die Kunst als auch die Naturwissenschaften Bilder, Collagen und Modelle, die uns helfen sollen, die Wirklichkeit abzubilden.“ (Oliver Glanz, Wenn die Götter auferstehen und die Propheten rebellieren, S. 112)

Wahrnehmung als Puzzle 2

Wann bist du das letzte Mal geflogen? Erinnerst du dich an den Moment des Abhebens? Hast du dich auch gewundert, dass sich eine tonnenschwere Passagiermaschine einfach so vom Boden lösen und in die Luft erheben kann? Es ist unglaublich … und unerklärlich. Zwar können wir den Auftrieb beobachten, messen und berechnen (Puzzlestücke), aber wie er physikalisch genau funktioniert, ist nach wie vor unklar. Es gibt verschiedene Theorien, die versuchen, aus den Teilen ein Bild zu machen. Und das Bild sieht auch ganz gut aus. Immerhin ist die Fragestellung überschaubar – das Puzzle hat sozusagen nicht viele Teile. Doch trotzdem merkt man am Ende, dass das Ganze irgendwie nicht zusammenpasst. Kurz gesagt: Wir wissen nicht, warum wir fliegen können. Wir tun es einfach.

Es ist also nach dem momentanen Erkenntnisstand unmöglich, zur Gänze zu erklären, was es uns ermöglicht, abzuheben. Genauso schwierig ist es übrigens, zu erklären, was uns auf der Erde hält. Das, was wir Gravitation nennen, ist nämlich auch ein gutes Beispiel für die Kreativität in den Naturwissenschaften. Schon die alten Ägypter wussten, dass die Planeten sich am Himmel bewegen. Nikolaus Kopernikus (1473-1543) erkannte, dass sie sich um die Sonne drehen (und die Erde um sich selbst). Johannes Kepler (1571-1630) entdeckte die zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten, um ihre Bahnen zu berechnen.

So weit, so messbar. Blieb allerdings die Frage, was die Planeten antreibt bzw. auf ihrer Bahn hält. Hier war nun Kreativität gefragt. René Descartes (1596-1650) vertrat die Theorie, dass eine unsichtbare Substanz, der Äther, das Universum ausfüllt und dessen Wirbel die Himmelskörper bewegen. Isaac Newton (1642-1726) entdeckte, dass Körper sich gegenseitig anziehen, und erklärte die Planetenbahnen mithilfe der Gravitation. Er blieb jedoch die Erklärung schuldig, wie genau die Gravitationskraft unmittelbar an entfernten Orten wirkt. Nachdem er verschieden Äthertheorien verworfen hatte, scheint es, dass er schlussendlich zu der Erklärung tendierte, Gott sei die Ursache der Gravitation. Er überließ das Urteil darüber jedoch dem Leser seiner Forschungsschriften. (Stephen C. Meyer, Return of the God Hypothesis, S. 45)

So lag das Puzzlestück der Gravitation fast 200 Jahre ohne Zusammenhang auf dem Tisch. Es war beobachtbar, messbar, berechenbar und ermöglichte zuverlässige Vorhersagen; lediglich bei der Umlaufbahn des Merkurs traten Fehler auf – aber es lieferte keine Erklärung für das Phänomen. Erst Albert Einstein (1879-1955) löste dieses Problem und entwarf ein großes Bild bzw. Modell, in dem das Puzzleteil Sinn ergab. In seiner allgemeinen Relativitätstheorie beschrieb er Gravitation als Krümmung der Raumzeit. Damit ließ sich die Bewegung des Merkurs endlich richtig berechnen – und die Lichtgeschwindigkeit als Konstante wurde nicht von der Gravitationskraft überholt. Doch Einsteins Erklärung ist gleichzeitig so kompliziert, dass man sie als Laie kaum nachvollziehen kann.

Mit fortschreitenden Erkenntnissen in der Astronomie trat ein neues Problem auf. Wenn man Galaxien und Sterne beobachtet, dann drehen sie sich zu schnell, um von den Gravitationswellen zusammengehalten zu werden. Eigentlich müssten sie nach außen geschleudert werden, wie die Scheibe beim Diskuswerfen, wenn der Athlet sie loslässt. Woher kommt die starke Gravitation, die dieses Ausbrechen verhindert? Es bräuchte viel mehr Masse, sprich mehr Sterne und Planeten, also viel mehr Krümmung der Raumzeit, um sie bei dieser Geschwindigkeit auf ihrer Bahn zu halten.

Entweder lag Einstein falsch oder es muss im Raum noch mehr Materie geben, die man allerdings auf keine Art und Weise nachweisen kann. Die überwältigende Mehrheit der Physiker hat sich entschieden, an Einsteins Modell festzuhalten und das Puzzle kreativ zu ergänzen. Dunkle Materie ist eine postulierte Größe, die man annimmt, damit die Gleichungen wieder stimmen. Ein bisschen erinnert das an den Äther von Descartes. Auf jeden Fall ist jede Menge Kreativität im Spiel. Nimmt man die ebenfalls postulierte dunkle Energie dazu (nach Einsteins E = mc² können Energie und Masse ineinander umgewandelt werden), so machen diese „erfundenen“ Elemente ca. 96 Prozent von allem aus, was existiert. Das wäre so, als fehlten von einem 1000-Teile-Puzzle 960 Teile und man würde sich trotzdem fachmännisch über das Motiv unterhalten.

„#DunkleMaterie: kein Modell, nur Mutmaßungen. Finden Sie heraus, warum wir nichts darüber wissen, woraus 96 Prozent des Universums bestehen.“