Die Menschheit hat was im Auge

Ägypten, ungefähr im Jahr 300 n. Chr.: In der Nähe der heutigen Stadt Qena entsteht am Ufer des Nils das erste christliche Kloster. Wir wissen nichts mehr über den Mönch, der dort mit seinem Schreibrohr ein Zitat auf ein Stück Papyrus kopierte, dessen philosophische Tiefe bis heute jeden Leser herausfordert. Gut 1600 Jahre lag das Manuskript in einem Mauerwinkel des Klosters, bis es 1952 entdeckt und in die Schweiz geschmuggelt wurde. Nach wenigen Jahrzehnten in einem Privatmuseum gelangte es 2006 in die vatikanische Bibliothek. Die Kopie des ägyptischen Mönches zählt heute zu den ältesten existierenden Abschriften des Lukasevangeliums. Und im sechsten Kapitel finden wir diese Worte von Jesus:

Was aber siehst du den Splitter, der in deines Bruders Auge ist, den Balken aber, der in deinem eigenen Auge ist, nimmst du nicht wahr? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, erlaube, ich will den Splitter herausziehen, der in deinem Auge ist, während du selbst den Balken in deinem Auge nicht siehst? Heuchler, ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge! Und dann wirst du klar sehen, um den Splitter herauszuziehen, der in deines Bruders Auge ist.

Lukas 6,41.42 · ELB

Lass diese wenigen Sätze einige Momente auf dich wirken. Kannst du aus diesen alten Worten für dich heute noch Weisheit herausziehen? Wenn ja, welche?

Die Aufforderung, nicht (vorschnell) über andere zu urteilen, klingt simpel und sinnvoll und ist doch unglaublich schwer umzusetzen. Jesus erklärt uns, warum es so schwer ist, mit dem eigenen Urteil zurückzuhalten. Dahinter steckt ein Phänomen, das sich anscheinend seit der Antike nicht verändert hat: Menschen sind oftmals blind für ihre eigenen Probleme, während sie das gleiche Verhalten bei anderen messerscharf analysieren können. So wie der Vater, der sein Kind anschreit: „WIR SPRECHEN FREUNDLICH MITEINANDER!“

Warum erkennen wir einen Fehler viel leichter bei anderen? Die Theologin sagt, der Grund sei die in Sünde gefallene Natur des Menschen. Durch die Trennung von Gott verzerre sich unser Denken, Fühlen und Handeln. Nein, nein, widerspricht der Psychologe, es habe mit unserer Unsicherheit zu tun. Wir versuchten unseren mangelnden Selbstwert auszugleichen, indem wir besser von uns denken als eigentlich angebracht. Es sei ein Schutzmechanismus. Auch das nicht, sagt die Evolutionsbiologin, es bringe einen Fortpflanzungsvorteil, selbst kleine Fehler und Schwächen von anderen erkennen und ausnutzen zu können, deswegen habe sich dieses Verhalten durchgesetzt. Moment, wirft der Soziologe ein, das erkläre aber nicht, warum die eigenen Schwächen unterschätzt werden. Der Grund dafür liege darin, dass unsere Gesellschaft überzuversichtliche Menschen belohnt und ihnen Macht und Verantwortung überlässt, zum Beispiel bei Topmanagern. Und warum, fragt der Psychologe zurück, finde sich diese Wahrnehmungsverzerrung dann auch bei völlig erfolglosen Menschen?

Wir müssen die Frage an dieser Stelle zum Glück nicht beantworten. Einig sind sich alle darüber, dass wir die Schwäche des anderen sehr leicht erkennen, aber unser eigenes viel größeres Problem oft übersehen. Das ist eine wichtige Erkenntnis: Wir alle machen uns ein Bild von uns selbst, von den anderen und von der Welt, das subjektiv und selektiv ist. Das bedeutet, unser Weltbild ist auf unseren eigenen Blickwinkel (als Subjekt) beschränkt und wir wählen aus (selektieren), was wir in unserem Bild berücksichtigen und was nicht.