Der Spatz in der Hand oder die Taube auf dem Dach?

Vor einiger Zeit sollte ich zur Einschulung von Kindern eine Ansprache halten. Ich spürte, dass damit viel Verantwortung verbunden war. Es war schon nicht leicht, die ungeteilte Aufmerksamkeit der Kinder zu gewinnen – ganz zu schweigen davon, dass ich ihnen ja etwas sagen wollte, was sie auch verstehen konnten und ihnen nützte. Man kann sich ja nicht vor Schulanfänger hinstellen und über den angeborenen Instinkt im Tierreich oder über die Rätsel des Unbewussten referieren. Ich fragte mich also: Was sollst du bei dieser Gelegenheit sagen? Sie würden mit ihren Schultüten vor mir sitzen, und ich hatte die Eröffnungsansprache zu halten. Irgendwie musste ich ihre Welt in meine Ansprache einbeziehen. Also sagte ich: „Nehmen wir an, in meiner rechten Hand hätte ich einen Tausendmarkschein. Wenn ihr diese Hand wählt, bekommt ihr das Geld, sobald ihr 21 Jahre alt seid. In meiner linken Hand habe ich fünf Mark, die ihr sofort bekommen könnt, wenn ihr wollt. Entscheidet euch jetzt für eines dieser beiden Angebote. Aber Vorsicht! Ich möchte, dass ihr euch die Antwort gut überlegt; daher gebe ich euch Zeit zum Nachdenken.“

Während ich sie beobachtete und spürte, wie ihnen die verschiedensten Gedanken durch den Kopf gingen, konnte man geradezu die Kaugummis, Gummibärchen, Schokoladen und anderen Süßigkeiten an ihrem inneren Auge vorbeiziehen sehen, alles, was man sich für fünf Mark kaufen konnte. Da mahnte ich: „Denkt gut nach, nur keine Eile!“

Die Kinder sahen mich mit großen Augen an. Ich wurde etwas nervös, denn ich hatte diesen Test schon einmal gemacht, allerdings mit einem eher betrüblichen Ergebnis. Deshalb mahnte ich zur Vorsicht. Tausend Mark in der Zukunft oder fünf Mark jetzt und hier. Als ich meinte, es wäre genug Bedenkzeit verstrichen, fragte ich: „Also, wofür entscheidet ihr euch?“ Alle wollten die fünf Mark! An ihren zufriedenen Gesichtern konnte ich ablesen, dass sie sich sicher waren, ich würde mich über ihre „kluge“ Wahl freuen.

Später machte ich den gleichen Versuch mit Teenagern. Einer der Jungen in der Klasse sagte: „Fünf Mark? Na, ein bisschen höher muss das Angebot schon sein!“ „Gut“, gestand ich zu, „wir machen einen Sportwagen nach eigener Wahl daraus, oder aber, du bekommst eine Million Mark, wenn du 21 Jahre bist. Was willst du also haben?“

Ich hatte den jungen Leuten von der Einschulungsfeier erzählt. Sie kannten also die Antwort, die im Grunde erwartet wurde. Und so meinte dieser Junge: „Wenn ich den Sportwagen wähle, liegt der wahrscheinlich schon lange auf dem Schrotthaufen, wenn ich 21 bin. Ich nehme lieber die Million.“

Wir leben in einer Generation, die nur das ‘Jetzt’ kennt, die sagt „Was ich will, möchte ich jetzt haben!“ Ist das ein Argument, das nur Kinder und Jugendliche gebrauchen? Nein, viele reden so; sie denken nur an den Augenblick, das ‘Morgen’ aber vergessen sie völlig.