Auslegungsformen

Manche Auslegungen der Offenbarung gehen von einem theologischen Vorverständnis aus. Diese Ansichten sind wie eine Brille, durch die alle Aussagen des Johannes betrachtet werden. Damit wird jedoch manches in den Text hineingedeutet, was dort nicht steht. Zwei weitverbreitete Formen der Auslegung sind der Futurismus und der Präterismus.

Während der Reformation bezeichneten die Protestanten den Papst als “Anti-, Ende- oder Widerchristen” und begründeten dies mit Aussagen der Bibel über den Antichristen (Daniel 7 und 8; 2. Thessalonich 2; Offenbarung 13 und 17). In der Gegenreformation versuchten deshalb zwei Jesuiten, diese Interpretation der biblischen Aussagen zu widerlegen.

Louis d´Alcazar legte den Antichristen in die Vergangenheit. Diese Auslegung nennt man Präterismus (abgeschlossene Ereignisse, ohne Bezug zur Gegenwart). Der Antichrist kam demnach nicht aus dem Juden- oder Christentum. Er war vielmehr das politische Rom, dessen Kriegen und Verfolgungen Tausende von Juden und Christen zum Opfer fielen. Diese Position wird heute noch von vielen liberalen protestantischen Theologen vertreten. Sie deuten deshalb die Aussagen der Offenbarung auf die Zeit des antiken Rom.

Der Jesuit Francisco Ribera veröffentlichte 1585 seine futuristische Sichtweise der Prophetie: Der Antichrist kommt danach aus Israel (aus dem Stamm Dan) und wird erst nach der “unsichtbaren Wiederkunft Jesu” und der “heimlichen Entrückung” der Gläubigen auftreten. Er wird den Tempel wieder aufbauen, den christlichen Glauben abschaffen, sich an die Stelle Gottes setzen und die Welt innerhalb von dreieinhalb Jahren erobern.

Im 19. Jahrhundert übernahmen konservative Protestanten die futuristische Sicht Riberas und sahen darin eine Möglichkeit, die Feindschaft mit Rom zu beenden. Sie erweiterten jedoch den Futurismus durch den Dispensationalismus. Er wird inzwischen von vielen protestantischen Freikirchen vertreten, aber auch von Mitgliedern der Landeskirche.

Der Dispensationalismus unterteilt die Geschichte der Menschheit in sieben Abschnitte. Während des Millenniums – dem siebten Zeitabschnitt nach der “heimlichen Entrückung” der Christen – werden nach dieser Sicht die Juden das Evangelium annehmen und anderen Völkern verkünden. Doch der Antichrist, der selbst ein Jude ist, wird sie unterdrücken. Nach sieben Jahren werden sie durch das sichtbare Erscheinen Jesu gerettet.

Diese Sichtweise wird jedoch in vielen Punkten den Bildern der Offenbarung und den vorausgesagten historischen Ereignissen nicht gerecht. Außerdem widerspricht sie verschiedenen Aussagen des Neuen Testamentes, das beispielsweise weder ein unsichtbares Kommen Jesu noch eine heimliche Entrückung der Gläubigen kennt.

Statt von vorgefassten theologischen Konzepten auszugehen, ist es sinnvoller, die Bilder der Offenbarung anhand der Bibel zu klären und die geschilderten Ereignisse mit historischen Daten und Berichten zu vergleichen. Schließlich will Gott uns durch dieses Buch die Geschichte der Menschheit und der christlichen Gemeinde von der Zeit des Johannes bis zum Ende der Welt zeigen.